Wenn es um die Bereiche Geopolitik und historische Perspektiven geht, sind die Franzosen sicherlich die weit profunderen Denker im Vergleich zu den Deutschen, wo es im politischen Berlin nicht nur an Kompetenz fehlt, sondern ein geistiges Vakuum sichtbar wird, wie die Äußerungen von AKK zu diesem Thema in jüngster Zeit eindrucksvoll und trübsinnig zugleich bestätigen.

Macron: Keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen zwischen den USA und ihren NATO-Verbündeten

Europa stehe am Rande eines Abgrunds und müsse anfangen, strategisch über sich selbst als geopolitische Macht nachzudenken, sonst „haben wir nicht mehr die Kontrolle über unser eigenes Schicksal“. Für Europa sei es nun „höchste Zeit“ aufzuwachen, sagte der französische Präsident in dem Interview. Macron kritisiert, dass es „keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen zwischen den USA und ihren NATO-Verbündeten“ gebe. Washington beweist, so das Staatsoberhaupt, dass es Europa den Rücken zugekehrt habe.

Der Präsident benennt als Beispiel den Rückzug der US-Truppen aus Nordsyrien, wodurch der Weg für eine türkische Militäroffensive gegen die Kurden ermöglich wurde. Die europäischen NATO-Mächte Frankreich, Großbritannien und Deutschland wurden davon vorher nicht in Kenntnis gesetzt und überrascht. Während die Bundeskanzlerin immer noch keine Antworten auf die Krise der NATO gefunden hat, sich stattdessen in Worthülsen verliert, liefert Macron eine glasklare Analyse über den Zustand dieses Militärbündnisses, welches sich schon längst überlebt hat.

Kritik an der Türkei

Das militärische Vorgehen des NATO-Landes Türkei in Nordsyrien steht im Fokus der Kritik aus Paris, weil dadurch die schon lange erkennbaren Widersprüche der NATO-Doktrin sichtbar werden. Um was für eine Werte-Gemeinschaft soll es sich bei dem Bündnis auch handeln, in der die Mitgliedstaaten weder eine Doktrin noch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik fordern?

Macron hat daher völlig Recht, wenn er die Nato als hirntot bezeichnet, irrt allerdings, wenn er äußert "Wir finden uns das erste Mal mit einem amerikanischen Präsidenten wieder, der unsere Idee des europäischen Projekts nicht teilt." Washington bezieht sich nur auf das "Europäische Projekt, wenn die EU brav und willfährig den Vorgaben Washingtons folgt.

Immerhin bekennt sich Macron mit seiner NATO-Kritik zu der französischen Tradition, die eigene Außenpolitik auf geopolitische Perspektiven und Erkenntnissen zu richten, was in der  jüngeren Vergangenheit in Paris in Vergessenheit geriet, besonders unter der unrühmlichen Amtszeit von François Gérard Georges Nicolas Hollande. Seit dem Amtsantritt Macrons, besonders seit Beginn dieses Jahres, scheint der Staatspräsident Frankreichs in der Außenpolitik Erfolge zu suchen, die ihm innenpolitisch bisher nicht gelungen sind.

Für die militärische Souveränität Europas

In dem Interview plädierte Macron dafür, dass Europa seine militärische Souveränität wiedererlangen muss. Dies ist zweifelsohne richtig und von beklemmender Aktualität. Der französische Präsident orientiert sich hier anscheinend an einer gaullistischer Strategie.

Charles André Joseph Marie de Gaulle, der wohl größte Staatsmann Frankreichs - vielleicht auch Europas - im 20. Jahrhundert, plädierte für ein starkes Europa, vom Atlantik bis zum Ural, unter Einschluss von Moskau. Schon früh erkannte der General im Amt des Staatsmannes, dass diese Vision im schroffen Gegensatz zu der Strategie der USA stand.

Als sich de Gaulle im März 1966 den Strukturen der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) entzog, liefen die Vorbereitungen für diesen Coup unter strengster Geheimhaltung. De Gaulle hatte nur seine Außen- und den Verteidigungsminister eingeweiht. Erst unmittelbar hatten die übrigen Minister erfahren, dass Paris seine militärische Mitarbeit in der NATO beenden werde.

In einem Brief an den damaligen US-Präsidenten Lyndon Baines Johnson, erklärte der französische Staatsmann, dass Frankreich beabsichtige „seine volle nationale Souveränität auf seinem Territorium" wiederherzustellen und sich auch nicht mehr an der „integrierten Kommandostruktur des Bündnisses" zu beteiligen.

Paris zog daraufhin am 1. Juli 1966 seine Truppen unter NATO-Befehl zurück. Formell blieb das Land Mitglied des Bündnisses, aber das NATO-Hauptquartier war immerhin gezwungen, von Paris nach Brüssel umzuziehen und seine Truppenverbände größtenteils in die Bundesrepublik zu verlagern. De Gaulle störte sich zunehmend an der angloamerikanischen Dominanz im Bündnis, das heißt der Herrschaft der USA, die bis heute anhält.

Um dieser Vision etwas Leben einzuhauchen, um die Partnerschaft Paris-Berlin ohne Einmischung Washingtons zu neuem Leben zu erwecken, dafür müssten sich die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik deutlich ändern, was auch die Opposition betrifft, denn die AfD hält an der bisherigen NATO-Politik fest.

Fazit:

Macron hat Recht, die NATO ist tot: Während die Kanzlerin Macrons Aussagen zur NATO kritisierte und die Bundesverteidigungsministerin am liebsten die Soldaten der Bundeswehr in unzähligen Krisengebieten der Welt zum Einsatz bringen möchte, hat der ehemalige außenpolitische Berater von Helmut Kohl und Kanzleramtschef Horst Teltschik, der in dem Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten eine herausragende Rolle spielte, in seinem Buch "Russisches Roulette" die Krise in der Beziehung zwischen Russland und der NATO analysiert und erkannt, dass die NATO mehr Grund zur Selbstkritik habe, als allgemein im Westen angenommen.

Teltschik plädiert leidenschaftlich dafür, dass die aktuelle Konfrontationspolitik der NATO dringend durch Kompromissbereitschaft und Verhandlungen ergänzt werden müsse. Dem ist nichts hinzuzufügen.

„Was heißt das konkret für mich!?“

Unser Kontinent muß seine Sicherheit selbst in die Hand nehmen. Dazu gehört eine Außen- und Verteidigungspolitik, die hierfür die richtigen Weichen stellt. Mit jenen politischen Kräften, die diesbezüglich in der Bundesrepublik und Europa gescheitert sind, ist das nicht zu machen. Diese Erkenntnis muß man gewinnen und verbreiten, um zumindest langfristig - und hier jeder mit den ihm oder ihr zur Verfügung stehenden Mitteln - dafür zu sorgen, dass die gewünschten Entwicklungen stattfinden.

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